Theorie der Skulptur | Zeitlichkeit
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Zeitlichkeit

 

Der im Horazschen ut pictura poesis angestrebte Vergleich von Malerei und Dichtung wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts an der Pariser Académie Royale auf die ebenfalls eine Historie abbildende Rundplastik übertragen und in narrativen, allansichtigen Einzelfiguren erweitert in: ut sculptura poesis.[i] Sukzessive Momente der Erzählung erfahren ihre Verdichtung in einer singulären, teils dramatisch bewegten Gestalt, mit dem Ziel, dem Betrachter die Geschichte in ihrem Ablauf vor Augen zu führen und dabei gleichermaßen die Härte und Unbeweglichkeit des Steins illusionistisch zu überwinden.[ii] Auch die klassizistische Kunsttheorie[iii] setzte sich bekanntermaßen mit dieser Thematik intensiv auseinander, zielte aber – u.a. in Lessings berühmtem Manifest zum Laokoon[iv] – auf einen Ausschluss zeitlicher Prozesse zugunsten der Einheit des Kunstwerks.

Zu untersuchen ist, welche spezifisch skulpturalen Darstellungsmodi für die Evokation von Zeitlichkeit prägend waren und wie sich diese in Positionen der Moderne und Gegenwart weiter tradieren. Rosalind Krauss beschreibt in „Passages in Modern Sculpture“ (1977)[v] die Entwicklung der Skulptur von Rodin bis zu den performativ erfahrbaren Werken der Land Art und der Minimal-Art Michael Heizers, Robert Smithsons oder Richard Serras als Geschichte einer zunehmenden Verzeitlichung des Mediums, das auf ein aktiviertes Publikum angewiesen ist. Dieses, auch als Prozessästhetik[vi] – in Abgrenzung zur Objektästhetik – skizzierte Phänomen impliziert eine rezeptionsbezogene Form von Zeitlichkeit, die sich erst im Dialog zwischen Artefakt und Rezipient entfaltet.[vii] Auf der Produktionsebene prägen u.a. die frühen Rotorreliefs Marcels Duchamps (1935)[viii] und seiner Nachfolger aus der kinetischen und kybernetischen Kunst sowie auto-generative Werke das vom Topos der fixierten statua befreite, skulpturale Erscheinungsbild. Temporalität fungiert hier im Sinne einer Abkehr von der traditionellen Praxis der durata.

Angesichts der Zunahme ephemerer Skulpturen, der Integration akustischer und beweglicher Elemente sowie begehbarer Raumplastiken sollen im Netzwerk die verschiedenen Zeitarten und -qualitäten solcher Erscheinungsformen differenziert benannt und herausgestellt werden. So gilt es, die primär durch Material, Oberflächenmodellierung und Anordnung im Raum suggerierte strukturelle – auch intrinsische genannte – Form der Temporalität von der dargestellten bzw. erzählten Zeit abzugrenzen und für die zeitgenössische Skulptur in den Fokus zu rücken.[ix]

 


 

[i] Vgl. Ströbele, 2012.
[ii] Vgl. Guido Reuter vor, Statue und Zeitlichkeit 1400-1800, Petersberg 2012.
[iii] Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, (1755), Sendschreiben und Erläuterung (1756), Stuttgart 1999; Johann Wolfgang von Goethe, Über Laokoon, 1798.
[iv] Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Berlin 1766.
[v] Krauss, 1981; dies., Skulptur im erweiterten Feld, Amsterdam & Dresden 2000.
[vi] Gerhard Graulich, Die leibliche Selbsterfahrung des Rezipienten – ein Thema transmodernen Kunstwollens, Essen 1989.
[vii] Eine Dynamisierung und Verzeitlichung der Form strebten bereits die Bildhauer des Futurismus und Kubismus im Aufbrechen der Kontur und einer daraus hervorgehenden Polyperspektivität an.
[viii] Siehe auch Naum Gabos kinetische Plastiken der 1920er Jahre und Alexander Rodtschenkos „Hängekonstruktion“ (1920).
[ix] Siehe u.a. Gottfried Boehm, Bild und Zeit, Weinheim 1987; Lorenz Dittmann, Raum und Zeit als Darstellungsformen bildender Kunst, Köln 1969; Dan George, Sculpture ‘Approaching the Speed of Light‘: The Use of Time as the Fourth Dimension, 1986; Ernst H. Gombrich, Der fruchtbare Moment. Vom Zeitelement in der bildenden Kunst, Stuttgart 1984; Guido Reuter, Zeitaspekte der Skulptur. Zur strukturellen Zeit in plastischen Bildwerken, Köln & Weimar & Wien 2003; Brigitte Scheer, Zur Zeitgestalt und Zeitwahrnehmung in den bildenden Künsten, 2001/02; Etienne Souriau, Time in the Plastic Arts, 1949; Heinrich Theissing, Die Zeit im Bild, Darmstadt 1987. Vgl. auch Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Tübingen 2000.

Temporality

 

Which specific sculptural modes of representation were influential in the evocation of temporality and how have these progressed through Modernity to the present day?

While the classic figurative sculpture traditionally offers a succession of moments to describe the various perspectives of a body allowing the whole story to unfold in front of the viewer’s eye, in 20th century the moment of temporality shifts towards the activated recipient himself (see amongst others Rosalind Krauss Passages in Modern Sculpture (1977)). On a production level Duchamp’s early Rotoreliefs (1935) and various kinetic, cybernetic and auto-generative works by his successors determine the sculptural appearance, now liberated of the topos of the immobile statua. Due to a rise of ephemeral sculptures and the integration of sound and motion sculptures as well as walk-through spatial sculptures, the Scientific Network has set out to identify and name the manifestations of various types and qualities of time.