Theorie der Skulptur | Räumlichkeit
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Räumlichkeit

 

Im Rahmen des seit der Renaissance kontinuierlich schwelenden Paragone, innerhalb dessen Benvenuto Cellini eine Schlüsselposition für die Skulptur einnimmt, gelten die molte vedute einer Figur als besondere difficoltà der Rundplastik. Dieses Aspektkriterium zeigt in aller Deutlichkeit die Herausforderung des Bildhauers, aus einem kubischen Block eine dreidimensionale Gestalt herauszumeißeln, deren einzelne Seiten umschritten und damit gesondert betrachtet werden können. Während das Tafelbild i.d.R. eine frontale Betrachtung, d.h. einen fixierten Standpunkt verlangt, definiert die Skulptur stets zugleich ihren Bezug zur Umgebung und konfrontiert ihr Gegenüber mit dessen eigener Körperlichkeit. Diese propriozeptive Eigenempfindung beschreibt Maurice Merleau-Ponty anschaulich mit seinem bekannten Beispiel der sich gegenseitig berührenden Hände: „[…] wenn er [der Mensch, U.S.] berührt und sieht, so liegen die sichtbaren Dinge nicht als Objekte vor ihm: sie sind um ihn herum, sie dringen sogar in ihn, sie tapezieren von außen und von innen seine Blicke und seine Hände.“[i] Objekt und Rezipient verbinden sich im Raum untrennbar miteinander.

In Anlehnung an bildtheoretische Ansätze[ii] unter zu Hilfenahme phänomenologischer Raumkonzepte[iii] soll im Netzwerk untersucht werden, wie Skulpturen mittels ihrer Plastizität einen eigenen Raum konstituieren, welche Rolle dabei inszenatorische Elemente und die rezeptionsästhetische Seite, d.h. der subjektive Dialog des Betrachters mit dem Werk spielt.

Ansatzpunkte für die hier geforderte Erweiterung der Perspektive lassen sich z.B. im Bereich der Architekturtheorie finden: So wäre die Tragfähigkeit von August Schmarsows anthropologisch begründetem Konzept der „Architektur als Raumgestalterin“[iv] und das damit verbundene Wahrnehmungsverständnis als kinästhetisches, in der Zeit verankertes Erlebnis kritisch zu reflektieren. Auch Ernst Cassirers Kategorie des „ästhetischen Raums“, der nicht apriori existiert, sondern erst in der Anschauung entsteht und seinen Gehalt über den jeweiligen Sinnzusammenhang konfiguriert,[v] ist im Hinblick auf die Perzeption von Skulptur zu berücksichtigen. Der plastische Raum erweist sich darin nicht nur als metrisch kalkulierbare, haptisch-physische Manifestation, sondern zugleich als polysensuell erfahrbares, dynamisches Moment, das die logisch fixierten Strukturen der Perspektivkonstruktion hinterfragt und zugunsten der semantischen Mehrdeutigkeit des Raums aufbricht.[vi]

 


 

[i] Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 181f.
[ii] Vgl. Gottfried Boehm, Plastik und plastischer Raum, München 2009. Der Aufsatz wurde erstmals im Katalog der Ausstellung der Skulpturprojekte in Münster 1970 veröffentlicht. Vgl. Martina Dobbe / Christian /Spies, „Bilderräume“, in: Gundolf Winter: Bilderräume. Schriften zu Skulptur und Architektur, hrsg. v. Martina Dobbe u. Christian Spies, München 2013.
[iii] Siehe u.a. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974. Hermann Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld & Locarno 2007.
[iv] Siehe August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1843. Vgl. u.a. Andrea Pinotti, Body-Building: August Schmarsow´s Kunstwissenschaft between Psychophysiology and Phenomenology, Farnham [u.a.] 2012; Tatiana Vladova, La pensée de l’art d’August Schmarsow entre corps et configuration spatiale , Berlin & München 2012.
[v] Ernst Cassirer, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, 1931.
[vi] Vgl. Yves-Alain Bois, Metamorphosis of Axonometry, 1981.

Spatiality

 

Since the Paragone (the Renaissance ranking of art forms), the numerous isolated views, the so-called molte vedute, of a figurative sculpture have been regarded as the specific difficoltà or challenge of a statue. While painting generally invites a front view from a fixed point, sculpture defines itself in relationship to its surroundings and thereby simultaneously confronts its counterpart(s) with its own corporality.

By following a Visual Culture Studies approach and incorporating phenomenological space concepts, the Scientific Network aims to scrutinize how sculptures constitute their own space through their plasticity. It will also explore the role of staged elements as well as the recipient-response effect, i.e. the individual dialogue between the viewer and the work. Hereby the sculptural space becomes more than a metrically calculated, haptic-physical manifestation; it proves to be a poly-sensually perceived, dynamic moment that challenges the logically fixed structures of the classic perspective construction in favour of the semantic polysemy of space.