Plastizität
Neben dem metrisch-physikalischen ist der plastische Raum essentiell für ein umfassendes Verständnis von Skulptur. Dieser manifestiert sich, Krauss und Boehm zufolge, greifbar an der Oberfläche des jeweiligen Werks – Ort der Kommunikation mit der Umgebung und Membran für den Austausch nach außen.[i] Bereits Johann Gottfried Herder – einer „der Väter der modernen Plastik“[ii] – begrüßte in seiner 1778 dargelegten haptischen Ästhetik den Eigenwert des Materials im Kontext einer Analyse gattungsspezifischer Merkmale der Skulptur.[iii] Im Hinblick auf phänomenologische Konzepte des 20. Jahrhunderts deutet sich schon bei Herders Verständnis von Skulptur als Körpererfahrung über den Bedeutungszuwachs der Plastizität ein neuer Subjektivitätsstatus des künstlerischen Artefakts an. Im (optischen) Ertasten der Oberfläche des Skulpturenkörpers erfährt der Rezipient seine eigene physische Präsenz zugleich als Subjekt und Objekt; die Perzeption des Gegenübers avanciert zur Existenzerfahrung.[iv] So ist die Wahrnehmungseigenschaft eines plastischen Objekts dabei nicht primär durch das perspektivische Sehen, sondern „durch das beidäugig-stereoskopische, bewegte, tastende bzw. kinästhetische Sehen geprägt“[v]. Im Zentrum der Analyse steht deshalb die Auseinandersetzung mit einem Sehen, das nicht nur die Augen, sondern den gesamten Körper einfordert.
Die Beschaffenheit der Oberfläche trägt entschieden dazu bei, wie sich eine Plastik verhält, ob sie sich ihrer Umgebung öffnet oder hermetisch verschließt.[vi] Doch wurde dieses Phänomen in den Diskursen zur klassischen Kunst, selbst zur Barockplastik kaum eigens thematisiert. Daher gilt es zu fragen, welche Forschungsansätze zu einer historischen Kunstgeschichte der Oberfläche ableitbare Begrifflichkeiten liefern, denen auch für moderne und zeitgenössische Positionen Gültigkeit zugesprochen werden kann.
Im Rahmen des seit einigen Jahren erwachten Interesse an einer Materialikonologie und -ästhetik erfährt auch der Begriff der Plastizität eine Renaissance.[vii] Zu diskutieren ist, inwiefern angesichts des wachsenden Gebrauchs ephemerer, transluzenter, wenig taktiler Stoffe – Rauch, Wasser oder Klang – die bipolare Dualität des Plastisch-Haptischen und des Optisch-Visuellen überhaupt noch greift. Ferner bleibt zu prüfen, inwieweit über den materialikonologischen Ansatz hinaus gerade die Untersuchung der Materialität der Medien (und ihrer Verfahren) skulpturtheoretische Potenziale erschließt.[viii]